Vor ein paar Jahren erregte der Sozialpsychologe Harald Welzer mit einer Studie in Deutschland Aufsehen, welche die Verarbeitung der NS-Vergangenheit in deutschen Familien erforschte. Dabei entdeckten die Wissenschaftler, dass rund zwei Drittel der Familienerzählungen Opfer- und Heldengeschichten über die Grosseltern sind, die von der Kinder- und Enkelgeneration nicht nur bereitwillig geglaubt, sondern geradezu eingefordert werden.

«Opa war kein Nazi»: Der Titel der Studie resümiert den Wunsch der Nachgeborenen, die eigenen Vorfahren auch wider besseres Wissen aus jeglichem Verdacht herauszuhalten und sie als Opfer oder Helden zu stilisieren. Das Wissen um die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus, urteilen die Forscher, rufe «in den Nachfolgegenerationen das Bedürfnis hervor, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben». Mit einem Wort: Bei den Nachfahren wiegt persönliche Loyalität schwerer als Kritikbereitschaft. 
An Welzers Studie mochte sich erinnert fühlen, wer die Reaktionen auf die Enthüllung der Weltwoche las, dass der Komponist Hans Werner Henze laut Bundesarchiv als Mitglied der NSDAP geführt wurde. Dass es nicht um moralische Schuld und Verantwortung eines Siebzehnjährigen gehen konnte, war offensichtlich. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, übten sich die Feuilletonisten im voreiligen Ausstellen publizistischer Persilscheine: Bei Henzes NSDAP-Mitgliedschaft, so wurde bereitwillig geglaubt, müsse es sich um ein Geburtstagsgeschenk für Hitler gehandelt haben. Die Angehörigen der Jahrgänge 1926/27 – allesamt verraten und verschenkt? 

Dass im Laufe der Zeit immer mehr prominente Namen in der NSDAP-Kartei auftauchen, scheint niemanden zu beeindrucken. Angesichts der «im Ganzen wenig belastbaren Quellen- und Faktenlage», hoffte die FAZ, würden die «bösen Geister» bald wieder in der Versenkung verschwinden. Hans Werner Henze habe es einfach nicht verdient, fand Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung, dass sein lebenslanges künstlerisches und politisches Engagement «wegen einer unbewiesenen Behauptung» zur Bussübung degradiert werde. 

Was sagt uns die Quelle?

Hätte die flinke Feuilletonistin wenigstens das eigene Zeitungsarchiv konsultiert, sie hätte bemerkt, dass Listen von Aufnahmescheinen kein «neues Argument» sind. Sie existieren auch im Falle anderer Betroffener wie Horst Ehmke und Erhard Eppler und wurden bereits vor zwei Jahren – bisher unwiderlegt – als Indiz für die penible Aufnahmepraxis der NSDAP im Jahre 1944 angeführt.

Doch für die promovierte Leitartiklerin, deren Sozialisierung als Historikerin sich in der Spätphase poststrukturalistischer Beliebigkeitspostulate vollzog, steht fest, dass «eine Quelle unfraglich nur eines besagt: dass sie existiert». Seriöse Quellenkritik sieht allerdings anders aus. 

Für Sammelaufnahmen ohne Wissen der Betroffenen fehlt bisher jeder Beleg. Der Historiker Norbert Frei hatte 2003 in einem Artikel über seinen Kollegen Martin Broszat lediglich die Vermutung geäussert, dass es sich bei dessen Parteiaufnahme um das Werk eines unter Quotendruck stehenden HJ-Oberen gehandelt haben könnte: «Wir können darüber heute nur noch spekulieren.» Auf Nachfrage teilte Freis Institut der Weltwochemit, dass der Wissenschaftler auch seitdem keine Belege für «Sammelaufnahmen» gefunden habe.

«Entlastungsbemühungen»

Unwiderlegt bleibt nach wie vor ein Gutachten des Historikers Michael Buddrus, der Tausende von NSDAP-Mitgliedsakten ausgewertet hat und zu dem Ergebnis kommt, dass es keine automatischen korporativen Aufnahmen von Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge oder NS-Verbände gegeben habe. 

Gegenteilige Erzählungen sind laut Buddrus «beständig perpetuierte Legenden, die ihren Ausgangspunkt in Entlastungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten und durch häufige Kolportage zu einem gern bemühten ‹Allgemeingut› avancierten, das mit der historischen Wirklichkeit allerdings nichts zu tun hat». 
Was für einfache Familien gilt, trifft offensichtlich auch auf die intellektuelle Verwandtschaft der Bundesrepublik zu: Opa war kein Nazi. Es war genau dieser Verdrängungsreflex, den die Leitartiklerin Franziska Augstein im Jahr 2005 in derSüddeutschen Zeitung kritisierte: «So haben alle Interessengruppen die Ihren immer in Schutz genommen: die Freunde des Grossbürgertums die Grossbürger, die Industriellen ihre Geschäftspartner, die Wissenschaftler ihre Lehrer, die Juristen die Kollegen und so weiter.» 

Zwei Dinge seien klar, verkündete Augstein damals: «Erstens: Es gab keine guten Nazis. Zweitens: Es gab keine Verstrickung.» Wer so absolut urteilt, dem muss es tatsächlich schwerfallen zu akzeptieren, dass die Wirklichkeit komplizierter ist.

MALTE HERWIG

erschienen in: Weltwoche, 25.02.2009

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