Heute druckt die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorab ein Kapitel aus der Handke-Biographie Meister der Dämmerung, die am 9. November bei der DVA erscheint.  Darin geht es um Handkes Treffen im Dezember 1996 mit dem damaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic in Pale. Der Dichter wollte Auskünfte über das Schicksal von Bosniern aus Srebrenica. Was er bekam, waren ein signierter Lyrikband und ein Glas Schnaps. Lesen Sie weiter:

Wenige Tage später reist Handke nach Pale. Der kleine Ort in der Nähe Sarajewos dient während der Präsidentschaft von Radovan Karadžić als Hauptstadt der Republika Srpska innerhalb Bosnien-Herzegowinas.

Im Sommer 1996 hat das Tribunal in Den Haag einen internationalen Haftbefehl gegen den bosnische Serbenführer erlassen, dem Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Kriegsrecht vorgeworfen werden. Zusammen mit dem serbischen Armeechef Ratko Mladić soll er der Hauptverantwortliche für die Bombardierung Sarajevos im April 1995 und das Massaker an bis zu achttausend Bosniern im Juli 1995 in Srebrenica sein.

Die Bilder von getöteten Kindern in den Leichenhallen von Sarajevo haben auch Handke schockiert. Ja, sie haben ihn rasend gemacht, und seine erste Reaktion ist die Überlegung, »wieso denn nicht endlich einer von uns hier, oder, besser noch, einer von dort, einer aus dem Serbenvolk persönlich, den für so etwas Verantwortlichen, d.h. den bosnischen Serbenhäuptling Radovan Karadžić, vor dem Krieg angeblich Verfasser von Kinderreimen!, vom Leben zum Tode bringe, ein anderer Stauffenberg oder Georg Elser!?«

Gleichzeitig kommen Handke Zweifel. Sind seine Mordgefühle nicht die »ohnmächtigen Gewaltimpulsionen eines fernen Sehbeteiligten«? Würde er Karadžić tatsächlich töten, wenn er die Gelegenheit dazu hätte? Das Leid der Opfer steht für ihn außer Frage, aber kann er diesen »sorgfältig kadrier- ten, ausgeklügelten und eben wie gestellten Aufnahmen« trauen, die in den Zeitungen gedruckt werden? Handkes Wunsch, sich persönlich ein Bild zu machen, steht im Mittelpunkt der Winterlichen Reise und aller folgenden Expeditionen nach Serbien, Bosnien-Herzegowina und in den Kosovo.

Das gleiche gilt für die Sprachbilder, in denen die Zeitungen das Geschehen auf dem Balkan fassen. Ist der ausgebildete Psychiater Karadžić nicht nur ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, sondern tatsächlich der durchgedrehte Dr. Seltsam, als den ihn die Medien zeichnen? Ein Hobbylyriker, der in mittelmäßigen Gedichten schon vor dem Krieg Sarajevo in Flammen aufgehen ließ und seine lyrischen Vernichtungsphantasien dann wie ein Nero in die Tat umsetzte?

Und was ist mit anderen Politikern wie Ibrahim Rugova, die als dichtende Staatsmänner gegen die Nichtdichter ausgespielt werden, fragt sich Handke 2002 in seinem Bericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević. Die französischen Zeitungen nennen den Präsidenten der Kosovo-Albaner einen »Gandhi des Balkans«, einen Schüler von Roland Barthes, der makelloses Französisch spreche. »Doch bis heute habe ich kein Gedicht Rugovas lesen können. Wo bleibt der Augenschein. Und wer oder was nimmt mir demnach mein Vorurteil? Denn ohne den Augenschein keine Befreiung.«

Wo bleibt der Augenschein? »Ich wollte so ein Gedicht von Karadžić lesen«, schreibt Handke Anfang 1996 in der Winterlichen Reise.118 Als er am 20. Dezember 1996 in Pale ankommt, ist Karadžić bereits vom Amt zurückgetreten und haust mit seinen Bodyguards in einer windschiefen, zugigen Baracke.

Auch Handke kommt mit einem Troß. Sein Freund Zlatko Bokocić, der Übersetzer Žarko Radaković und ein Suhrkamp- Angestellter begleiten ihn, als er Karadžićs Büro betritt. Der Montenegriner mit dem Quadratschädel und der wuchtigen Haartolle sitzt hinter einem riesigen Schreibtisch, auf dem zwischen Papierbergen eine Obstschale steht.

Ebenfalls dabei ist der Philosophieprofessor und Hegel- Experte Aleksa Buha, damals Außenminister der Republika Srpska, der Handke Karadžićs Einladung zu dem Treffen über- bracht hat. »Für mich war das ganz selbstverständlich, daß ich hingehe«, sagt Handke heute. »Man will die Geschichte ja verstehen, also geht man hin. Das würde ich jederzeit wieder machen.«

Karadžić erhebt sich von seinem Stuhl, begrüßt seine Gäste und läßt Sliwowitz einschenken…

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