Hans Werner Henze ist einer der berühmtesten deutschen Komponisten der Gegenwart. Politisch hat er sich als Linker und Antifaschist betätigt. Jetzt legt eine Recherche nahe: Der 1926 geborene Henze war Mitglied der NSDAP.
Wäre die Erinnerung ein Konzert – so könnte es klingen, das Jüngste Gericht über die deutsche Vergangenheit: «Ein In- und Aufeinander von Schreckensgetön aus der Kindheit, Erinnerungen an Marschlieder und Hymnen, Gassenhauer und Gemeinheiten, Suff. Blitzlichtklänge aus dem riefenstahlschen Nazi-Nürnberg beleidigen uns, den Fanfarenzügen entfährt grelle Ignoranz, das doofe Dur der Angepassten und Mitlaufenden.»
Es ist ein schauerliches Blasmusikgewitter, das sich am 24. Februar 1993 über das Publikum in der Kölner Philharmonie entlädt. «Blasmusik von der schlimmsten Art» – so befand nicht etwa ein erboster Kritiker, sondern der Komponist selbst. Die Musik seines damals in Köln uraufgeführten Requiems solle den Zuhörern durch Mark und Bein gehen, schreibt Hans Werner Henze in seinen Erinnerungen «Reiselieder mit böhmischen Quinten»: «Es soll bewusst gemacht werden, dass das Vokabular der Unmenschen noch immer in Gebrauch ist, die Herzen vergiftet, die Begriffe von Würde und denkerischer Schönheit und schöngeistigem Denken herunter in den Schmutz des Allgemeingebräuchlichen und der Genügsamkeit zieht.» Gegen das «doofe Dur der Angepassten» setzte Henze zeitlebens seine Musik: ein Mahner in Moll, ein rückwärtsgewandter Widerstandskämpfer.
Aufnahmeantrag am 18. Januar 1944
Doch sind die Rollen zwischen Gut und Böse wirklich so klar verteilt? Eine Entdeckung, welche die Weltwoche im Keller des Bundesarchivs in Berlin machte, lässt Zweifel an diesem (Selbst-)Bild aufkommen. In der dort aufbewahrten NSDAP-Mitgliederkartei befindet sich eine Karteikarte, die den angehenden Komponisten unter der Nummer 9884828 als Parteimitglied der NSDAP verzeichnet. Laut Auskunft des zuständigen Abteilungsleiters im Bundesarchiv, Hans-Dieter Kreikamp, wurde die Parteiaufnahme am 18. Januar 1944 beantragt und erfolgte gemäss Anordnung 1/44 des Reichsschatzmeisters der NSDAP (Aufnahme von Hitlerjungen der Jahrgänge 1926 und 1927) am 20. April 1944. Ein unterschriebener Aufnahmeantrag liegt nicht vor.
Hingegen findet sich der am 1. Juli 1926 in Gütersloh geborene Henze auf einer namentlichen Liste von 500 NSDAP-Aufnahmescheinen, die am 15. März 1944 von der Gauleitung Südhannover-Braunschweig an die Reichsleitung in München gesandt wurde. In einem Schreiben vom 7. Juni 1944 an die Gauleitung Hannover beanstandet das Aufnahme-Amt der NSDAP-Reichsleitung das Fehlen einer eigenhändigen Unterschrift eines der 500 Antragsteller auf dieser Liste. Doch dabei handle es sich nicht um Henze, so Kreikamp, «dessen Aufnahmeantrag somit unbeanstandet blieb». Für Kreikamp steht fest: «Ohne Schriftzug im Feld ‹eigenhändige Unterschrift› auf diesem Formular wäre das Aufnahmeverfahren nicht durchgeführt worden.»
Was ist von der mutmasslichen NSDAP-Mitgliedschaft Henzes zu halten? Fest steht: Mit der deutschen Vergangenheit hat es sich der Komponist, der als 17-Jähriger erst in den Arbeitsdienst und dann in die Wehrmacht verpflichtet wurde, nie leichtgemacht. Sein Werk sei als Warnung vor dem Vergessen der Nazi-Verbrechen, als musikalisches Eintreten für Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verstehen: «Weltlich, multikulturell und brüderlich». Aus vielen Stücken des – neben Karlheinz Stockhausen – berühmtesten und einflussreichsten deutschen Komponisten der Nachkriegszeit tönt laut vernehmlich das «Nie wieder». Sein Komponieren, sagte er in einem Interview, sei «Trauerarbeit», die Erinnerungen kämen manchmal wie Fieberschübe oder Alpträume über ihn.
Ob in Partitur oder Politik: Henze ist zweifellos einer der engagiertesten deutschen Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Er setzte sich für den Sozialismus auf Kuba ein, nahm den durch das Attentat schwer verletzten Rudi Dutschke in seiner italienischen Vil-la auf, machte Wahlkampf für Willy Brandt. Seine 1997 uraufgeführte 9. Sinfonie widmete er «den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus». In seiner Autobiografie stellt sich der ehemalige Wehrmachtssoldat Henze mit behendem Wir neben die Widerstandskämpfer in Anna Seghers Roman «Das siebte Kreuz», auf dem seine Sinfonie beruht: «Wir identifizieren uns mit diesen unseren Landsleuten von damals, errichten ihnen, den vergessenen Helden des Widerstands, ein neues Denkmal.» Während Günter Grass, Jahrgang 1927, der trägen Nachkriegsliteratur mit seiner «Blechtrommel» eins auf den Kopf gab, mischte Henze die Musikwelt auf. Henzes mutmassliche NSDAP-Mitgliedschaft ist nicht der erste Fall, der einen Schatten auf die Vergangenheit führender Persönlichkeiten der bundesdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit wirft.
Bereits vor zwei Jahren sorgte die Entdeckung der NSDAP-Mitgliedskarten von Martin Walser, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Horst Ehmke und anderer Prominenter für Aufregung und die bohrende Frage: Haben sie oder haben sie nicht unterschrieben? Die Reaktion war einhellig: Bis auf den SPD-Politiker Erhard Eppler bestritten alle Betroffenen unisono, jemals die Aufnahme in Hitlers Partei beantragt zu haben. Dieses «Davon haben wir nichts gewusst» – hat man das nicht schon einmal gehört? Auch Henze, der später im italienischen Exil der Kommunistischen Partei Italiens beitrat, will von einer NSDAP-Mitgliedschaft nichts wissen: «Ich erinnere mich nicht, jemals den Wunsch verspürt zu haben, der NSDAP beizutreten», sagt der Komponist am Telefon. Seine «phantomatische Mitgliedschaft» müsse wohl ein Geburtstagsgeschenk der Gauleitung Südhannover-Braunschweig an Hitler gewesen sein.
Vor zwei Jahren meldeten sich Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Norbert Frei mit der Einschätzung zu Wort, dass im Fall der Jahrgänge 1926/27 auch Sammelaufnahmen ohne eigenhändige Unterschrift der Betroffenen möglich gewesen seien. «Es ist denkbar, dass bestimmte Gauleiter telefonisch durchgaben, dass die HJ-Führer, die noch da waren, angemeldet werden sollten», vermutete Wehler: «Empirische Beweise gibt es dafür aber noch nicht.» Unter den Zuschriften zahlreicher Angehöriger der «Flakhelfer-Generation», die seitdem den Autor dieses Artikels erreichten, sind auch solche, die auf Ausnahmen in der Durchführung von NS-Parteiaufnahmeverfahren im Jahr 1944 schliessen lassen. Ein ehemaliger Angehöriger der Hitlerjugend schickte Feldpostbriefe seiner Eltern: Sein Vater habe einen «Aufnahmeschein» für ihn ausgefüllt, er sei als «einer der Ausgesuchten» in die Partei aufgenommen worden. Auch über Aufnahmezeremonien und das Eintreffen des Parteiabzeichens hielten ihn die stolzen Eltern auf dem Laufenden. Bleibt die Frage: Weshalb war der betreffende Hitlerjunge ein «Ausgesuchter» und die Nachbarskinder nicht? Angesichts der ausufernden Forschungsliteratur zum «Dritten Reich» scheint merkwürdig, dass die Aufnahmeverfahren jener Partei kaum erforscht sind, die im Zentrum des Unrechtsstaates stand und deren Mitgliedschaft bis heute als unheilvoller Makel gesehen wird.
War Hans Werner Henze, der nie einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben behauptet, ein «Ausgesuchter», der ohne eigene Unterschrift in die NSDAP aufgenommen wurde? Hat sein Vater den Aufnahmeantrag für das älteste von sechs Kindern ausgefüllt? Die Familienkorrespondenz im Sacher-Archiv hat Henze mit einer Sperrfrist von einem halben Jahrhundert nach seinem Tod belegt – ob auch er in Feldpostbriefen von seiner Parteiaufnahme erfahren hat, kann also derzeit nicht festgestellt werden.
Seinen Vater, den Lehrer Franz Henze (1898–1945), beschreibt der Komponist als überzeugten Nationalsozialisten, der für ihn, den homosexuellen, linkshändigen Aussenseiter, zum Inbegriff des totalitären NS-Regimes wurde. «Mein Hass auf den Vater», schreibt Henze in «Musik und Politik», «verschränkte sich mit dem Hass auf den Faschismus und übertrug sich auf die Nation der Soldaten, die mir als eine Nation von Vätern erschien.» Noch dreissig Jahre nach Franz Henzes Tod plagen den Sohn «Magenkrämpfe bei Erinnerungen an den Vater, die nun unentwegt heraufkommen aus dem grossen schwarzen Teich des Vergessens».
Nun könnte die verdrängte Vergangenheit Hans Werner Henze selber einholen. «Es kommt einem so vor, als ob irgendwelche bösen Geister aus der Finsternis auftauchen», sagt Henze per Telefon über seine «phantomatische Mitgliedschaft in der NSDAP».
Von einer «verratenen Generation» spricht der Soziologe Heinz Bude mit Bezug auf die Angehörigen der Jahrgänge 1926/27. Existenziell irritiert und defensiv gestimmt, habe sich die Generation der Flakhelfer selber verleugnet. Nach dem Krieg übernahmen mit Ade-nauer die Grossväter das Geschäft der Demokratie, der Aufstand gegen die Väter fiel aus, er blieb den Achtundsechzigern vorbehalten. So lebte die Generation der Walsers, Hildebrandts und Henzes die hoffnungslose Ambivalenz der Dazwischengeborenen, «bindungslos und verstrickt zugleich». Das daraus resultierende Schamgefühl versuchten sie durch Fleiss, Anstand und als Mahner zu kompensieren.
Betonung der individuellen Sühne
Sein früher Antifaschismus, schrieb Henze in den siebziger Jahren, sei aufgrund des Vaters mehr psychologisch motiviert als politisch. Abseits stand er in der Nazizeit nicht. Er wurde in Magdeburg zum Panzerfunker ausgebildet, um dann in geheimer Mission als Soldaten-Schauspieler mit einer Filmtruppe fingierte Fronteinsätze für die Wochenschauen zu drehen, bis das «Dritte Reich» endgültig zusammenbrach.
Weniger nach Widerstandsmythos klingt auch die Dankesrede, die Henze zur Verleihung der Ehrendoktorwürde 1997 an der Universität Osnabrück hielt: «1945, am Ende des totalen Zweiten Weltkriegs dann, sassen wir auf den Trümmern, zählten und begruben die Leichen, beweinten sie und bedauerten unser kollektives Versagen gegenüber der Diktatur, unser Mitläufertum und unseren kollektiven Mangel an Zivilcourage [. . .]. Es musste eine völlige Revision des Denkens stattfinden. Sie musste anfangen mit dem kollektiven Eingeständnis einer kollektiven Schuld. Es fand eine Katharsis statt – bei Einzelpersonen, nicht bei allen!»
Neben die Scham über das kollektive Versagen tritt hier eine auffällige Betonung der individuellen Sühne – ein Erlösungsthema, das in Henzes autobiografischen Schriften immer wieder auftaucht. Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, schrieb der Komponist schon 1963 in einem Aufsatz über «Musik als Resistenzverhalten», habe den Anfang einer neuen Zeit bedeutet, «in der den Unschuldigen, den Reinen, und auch den in Reue Gereinigten, erlaubt sein würde, Freies, Entferntes, in den Menschen unerkannt schlafende Möglichkeiten von Noblesse zu empfangen».
Das beharrliche Eintreten in Wort und Ton für Frieden, Menschlichkeit und Gerechtigkeit – vielleicht muss man es als nachgeholten Widerstand einer ganzen Generation von Künstlern und Intellektuellen verstehen, als Wiedergutmachung für das Unrecht einer verratenen Jugend. Um individuelle Schuldzuweisung jedenfalls kann es bei der Diskussion um die mutmassliche Parteimitgliedschaft von damals 17- und 18-Jährigen nicht gehen, auch nicht im Fall Hans Werner Henzes. Auch wenn die Betroffenen schweigen, ihr künstlerisches Werk ist äusserst mitteilsam. «Denn Orpheus ist, die Musik, alle Künste sind dazu da, die dunklen Triebe, die in den Menschen rumoren, zu befrieden», heisst es bei Henze.
MALTE HERWIG
Erschienen: Weltwoche, 11.02.2009